Sonntag, 22. Januar 2017

nd vom 21.01.2017: Konsequenzen bei Hartz IV egal (neues-deutschland.de)

Konsequenzen bei Hartz IV egal

Bundesregierung weiß nicht, welche Folgen die Totalsanktionen der Jobcenter für die Betroffenen haben


Sanktionen gehören zu den schärfsten Instrumenten der Jobcenter. Mit der Kürzung von Geldleistungen, die im Extremfall auf Null gefahren werden können, will man strafen und konformes Verhalten der Langzeitarbeitslosen erzwingen. Die Frage, ob man das menschenwürdige Existenzminimum, das Hartz IV nach Ansicht der Bundesregierung gerade noch so absichert, überhaupt durch Sanktionen beschneiden darf, beschäftigt auch das Bundesverfassungsgericht. Das Sozialgericht Gotha hatte einen entsprechenden Vorlagebeschluss eingereicht. So möchte das Sozialgericht klären lassen, ob Hartz IV-Sanktionen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Schließlich leitet sich das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus dem in der Verfassung verankerten Sozialstaatsprinzip ab.
Wohl kaum mit diesem Prinzip vereinbar sind die sogenannten Vollsanktionen. Wer sich wiederholt weigert, eine ihm zugewiesene Arbeit aufzunehmen, dem kann das Jobcenter die Regelleistungen um 100 Prozent kürzen. »Dann gibt es nur noch Lebensmittelgutscheine, die aber beantragt werden müssen und zudem von vielen Supermärkten nicht akzeptiert werden«, weiß die ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann im »nd«-Gespräch zu berichten. Jedoch würden sich viele scheuen, mit solchen Gutscheinen einkaufen zu gehen. »Die schämen sich«, hat Hannemann beobachtet, die heute für die Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft sitzt. Das setzt zudem einen fatalen Automatismus in Gang: Wer keine Lebensmittelgutscheine beantragt, kann im Extremfall auch seine Krankenversicherung verlieren.
Auf jeden Fall sind die Sanktionierten danach beim Amt verschuldet. Denn die Lebensmittelgutscheine sind nur ein Darlehen, das später mit dem Regelsatz verrechnet wird - wenn die Betroffenen sich nicht ganz zurückziehen. Insbesondere Jüngere unter 25 würden durch die Vollsanktionen abgeschreckt. »Die haben wir komplett verloren, die verschwinden und melden sich nicht mehr«, so Hannemann. »Ich habe niemals solche Sanktionen ausgesprochen, weil man dadurch viel kaputt macht und Vertrauen zerstört«, so Hannemann. Oft landeten die Betroffenen in der Kriminalität, verkauften Drogen oder gingen betteln. Für jüngere Hartz-Bezieher gelten zudem strengere Regeln. Wer nur einmal ein Jobangebot ablehnt, kann mit einer dreimonatigen Totalsanktion belegt werden.
Die Vorsitzende der LINKEN, Katja Kipping, wollte nun von der Bundesregierung wissen, wie viele Personen jährlich vollsanktioniert werden und wie viele Betroffene, den Kontakt zum Jobcenter abgebrochen haben. Die Antwort des Bundesarbeitsministeriums liegt »neues deutschland« nun vor. Demnach sollen im Jahr 2015 durchschnittlich 7000 Leistungsberechtigte im Monat total sanktioniert gewesen sein, schreibt das Ministerium unter Bezug auf entsprechende Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Im Vergleich zum Jahr 2008 wäre das ein deutlicher Rückgang. Damals zählte man im Schnitt 12 000 Vollsanktionierte im Monat.
Bei der Frage nach dem Verbleib von Menschen, die nach einer Sanktion vom behördlichen Radarschirm verschwanden, muss das Ministerium passen: »Erkenntnisse zum Verbleib nach Ende der Phase einer Vollsanktionierung liegen der Bundesregierung nicht vor«, heißt es in der Antwort.
Ebenso wenig weiß man im Haus von Ressortleiterin Andrea Nahles (SPD), wie viele Vollsanktionierte Sachleistungen erhielten. Auch über die Zahl derer, die keine Lebensmittelgutscheine beantragten und damit auch die Krankversicherungsbeiträge einbüßten, herrscht im Ministerium Unklarheit.
Ein Skandal, meint Katja Kipping. Gegenüber »neues deutschland« sagte sie am Freitag: »Das Bundesministerium von Andrea Nahles weiß nichts über die Folgen des zutiefst grundrechtswidrigen Akts der Totalsanktionierung. Ihr scheint das Schicksal der Betroffenen vollkommen egal zu sein.«
nd vom 21.01.2017: Konsequenzen bei Hartz IV egal (neues-deutschland.de)